Berliner Zeitung, 18.10.2006

Der Borkenkäfer bezwingt die Rocky
Mountains
Weil es in Kanada wärmer wird, breiten
sich die Schädlinge auch in Gebieten aus, wo die Bäume bislang sicher vor
ihnen waren
Jens Wieting
Der Kiefernborkenkäfer hat in Nordamerika
eine größere Waldfläche befallen als je zuvor. Nachdem er die Rocky Mountains
überwunden hat, könnte er sich nun auch über weite Teile der übrigen Wälder
Kanadas ausbreiten. Das geht aus dem aktuellen Regierungsbericht zur Lage des
kanadischen Waldes hervor.
In der westlich der Bergkette gelegenen
Provinz British Columbia haben die Käfer schon gezeigt, welchen Schaden sie
anrichten können. Dort töten sie nach mehreren milden Wintern inzwischen mehr
Bäume, als durch Brände und Holzeinschlag verschwinden. Fast neun Millionen
Hektar sind schon betroffen - ein Gebiet größer als Bayern. Die
Forstverwaltung der Provinz schätzt, dass sich der Schaden in den nächsten
Jahren verdreifachen wird; dann wären 80 Prozent des Kiefernbestandes im
Inneren des Bundesstaates vernichtet.
Inzwischen habe der Borkenkäfer der Art
Dentroctonus ponderosae schon die benachbarte Provinz Alberta zur Hälfte
durchquert, berichtet Allan Carroll, Insektenökologe des kanadischen
Forstservice. Dort befällt er nicht nur die im Westen des Landes vorherrschende
Drehkiefer, sondern auch die im Landesinneren verbreitete Art, eine Kreuzung aus
Dreh- und Banks-Kiefer. "Der Borkenkäfer ist weniger wählerisch als
andere Schädlinge", sagt Bill Wilson, Forschungsdirekor des Forstservice.
In der Vergangenheit wurden die Insekten
durch frühe Wintereinbrüche und lange Kälteperioden an der Ausbreitung
gehindert. Doch dem kanadischen Wetterdienst zufolge war der jüngste Winter der
wärmste seit Beginn der landesweiten Messungen vor 60 Jahren. Die Temperaturen
lagen knapp vier Grad Celsius über dem Durchschnitt. Daher erreicht der Käfer
jetzt auch Bäume in Höhenlagen, die bisher als sicher galten. Außerdem fördern
die heißen und trockenen Sommer seine Verbreitung, da Bäume unter diesen
Bedingungen weniger widerstandsfähig gegen die Käfer sind.
Gänge unter der Rinde
Es sind die weiblichen Borkenkäfer, die
die Bäume befallen. Sie bohren sich durch die Rinde und legen darunter
Gangsysteme an. Dort paaren sie sich mit den Männchen und legen ihre Eier ab.
Nach dem Schlüpfen fressen sich die Larven durch das Gewebe, in dem der Baum
Wasser und Nährstoffe zu den Ästen transportiert. Mit den Käfern kommt auch
ein Pilz, der die Wasserversorgung des Baumes blockiert und das Holz bläulich färbt.
Außerdem wird der Baum durch den Pilz daran gehindert, Harz abzusondern und
sich auf diese Weise gegen den Borkenkäfer zu verteidigen. Es dauert nur einige
Wochen, bis eine befallene Kiefer stirbt. Zunächst verfärben sich die Nadeln
rot, nach ein bis zwei Jahren fallen sie von den Zweigen und es steht nur noch
der graue Baumstamm. Jeder befallene Baum ist Brutstätte für genügend Käfer,
um zehn bis zwölf weitere Bäume anzugreifen.
Ähnlich wie europäische Borkenkäferarten
wird auch der Kiefernborkenkäfer bekämpft, indem man befallene Bäume aus dem
Wald entfernt und Insektenfallen mit Lockstoffen präpariert. "Frühzeitig
entdeckte und lokal begrenzte Vorkommen können so kontrolliert werden",
sagt die Geografin Trisalyn Nelson von der University of Victoria. Anders als in
Europa seien die kanadischen Waldflächen aber zu groß, um den Borkenkäfer auf
diese Weise systematisch zu bekämpfen. "Im Westen Kanadas können wir den
Kiefernborkenkäfer mit den bisher angewandten Methoden nicht mehr in Schach
halten, wenn sich die Anzeichen für den Klimawandel mehren", sagt die
Borkenkäfer-Expertin. "Und für die Wälder im übrigen Land fehlt uns die
Erfahrung."
Frostschutz im Körper
Selbst große Kälte kann der
Kiefernborkenkäfer längere Zeit überstehen. Er produziert dazu das
Frostschutzmittel Glykol, das in seinem Blutkreislauf zirkuliere. Erst wenn es
im Winter mehrere Wochen lang kälter ist als minus 40 Grad Celsius, oder wenn
es im Herbst oder Frühjahr zu einem plötzlichen Kälteeinbruch mit
Temperaturen unter minus 25 Grad kommt, stirbt der Käfer. "Bei dem jetzt
erreichten Ausmaß des Befalls kann uns nur noch ein sehr kalter Winter
helfen", sagt Nelson.
Um das Holz der abgestorbenen Bäume
industriell nutzen zu können, hat die Regierung von British Columbia die Zahl
der Genehmigungen für Holzfäller drastisch erhöht. In den kommenden zehn bis
fünfzehn Jahren steht der Industrie deshalb ein Überangebot des Rohstoffes
Holz zur Verfügung. Doch danach droht Knappheit. Denn die Wälder brauchen sehr
viel mehr Zeit, um sich wieder zu erholen.
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